Die Geschichte, die ich euch erzählen möchte, liegt schon lange zurück, aber ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen. Ich versichere euch, dass sie sich wirklich genau so zugetragen hat, auch wenn ihr es vielleicht nicht glauben wollt. Im Nachhinein haben wir viel darüber gelacht, aber nur, weil alles gut gegangen ist, denn so viel kann ich euch schon jetzt verraten: Ich habe wirklich Schwein gehabt – das hätte wahrhaftig auch anders ausgehen können!
Vor nun schon fast vierzig Jahren – sind tatsächlich seitdem schon mehrere Jahrzehnte ins Land gezogen? – habe ich eine ganze Weile auf einem Islandpferdehof in Süddeutschland gearbeitet.
Nun, damals war das Islandpferdefieber in Deutschland noch nicht so verbreitet und große Höfe wie der, auf dem ich gearbeitet habe, eher die Ausnahme.
Bei uns standen jedoch schon damals um die fünfzig Pferde in allen Farben, die diese Rasse so bunt und abwechslungsreich machen, in einem Außenpaddock, aber die meisten waren Füchse, Braune und Rappen.
Ich selbst bezeichnete mich zu dieser Zeit als Freizeitreiterin und bin es eigentlich bis heute geblieben, nur, dass ich damals über viel weniger Erfahrung verfügte, was ich mit einem dafür umso größeren Herz für die Pferde wieder wettmachte.
Leider ließ mir die Arbeit auf dem Hof nicht viel Zeit zum Reiten. Meist kam ich nur an meinen wenigen freien Tagen oder nach einem langen Arbeitstag zu dem Vergnügen eines entspannten Ausritts.
Da meine eigene Stute krank war, durfte ich dafür öfter ein älteres Schulpferd ausborgen, um nach Feierabend gemütlich durchs Gelände zu zuckeln.
An einem schönen Sommertag bereiteten der Hofbesitzer und einige seiner Mitarbeiter alles für die Fahrt zu einem Turnier vor und ich fragte ihn, welches der Schulpferde ich während seiner Abwesenheit reiten dürfte.
Er überlegte kurz und hastete dann, mit mir im Schlepptau, zum großen Paddock und deutete vom Zaun aus auf ein Pferd, das in einiger Entfernung etwas abseits stand: „Siehst du den Rappen dort?
Das ist Óðinn. Der ist ruhig und gemütlich, genau das Richtige für dich. Mit dem wirst du Spaß haben!“, und war auch schon wieder fort, denn es gab noch eine Menge vorzubereiten.
Ich freute mich schon auf den nächsten Tag, wo ich am Feierabend meinen ersten Ausritt mit Óðinn machen wollte.
Nach zwei randvollen Arbeitstagen, da ja der Chef und einige Mitarbeiter fehlten, freute ich mich umso mehr auf die wohlverdiente Entspannung beim Ausritt.
Doch meine erste Begegnung mit Óðinn ging schon alles andere als entspannt los: Ich hatte Mühe ihn einzufangen und musste ihn schließlich mit einer Möhre bestechen, damit er sich schließlich doch dazu überreden ließ mir zu folgen.
Auch das Putzen stellte sich als nicht so einfach heraus. Er zappelte unruhig am Anbindebalken herum und schien am Ende gar nicht damit einverstanden zu sein, dass ich ihm den Sattel auflegte.
„ Der Arme“, dachte ich ein wenig mitleidig, sicher musste er heute schon eine Menge Reitschüler auf seinem Rücken ertragen und sich von den Anfängern unter ihnen unsanft mit den Hacken antreiben und grobem Ziehen an den Zügeln zum Anhalten bewegen lassen – und nun sollte für ihn als einziges der Schulpferde immer noch nicht Feierabend sein?“
Er brachte seinen Unwillen darüber sehr deutlich zum Ausdruck, ja es wirkte fast ein wenig ängstlich, wie er ständig nach seinen Kumpels wieherte.
Doch ich ließ mich nicht davon beirren, denn – so sehr ich ihn auch zu verstehen glaubte – wollte ich keinesfalls auf mein Feierabendvergnügen verzichten, auf das ich mich den ganzen Tag über gefreut und auf das ich, wie ich meinte, ein Anrecht hatte.
So trieb ich ihn energisch vorwärts und ließ es nicht zu, dass er sich umdrehte und eigenmächtig unseren Ausritt beendete.
Schon am nächsten Tag schien er besser verstanden zu haben, wer das Sagen hatte und ließ sich bereitwillig für unseren Ausritt fertigmachen.
Auch beim Reiten zeigte er sich kooperativer und ließ sich unter meiner Führung fast reibungslos und mit deutlich weniger Gewieher vom Hof reiten.
Als der Chef nach einigen Tagen wieder zurückkehrte, waren wir dem, was ich unter einem entspannten Ausritt verstand, schon um einiges näher gekommen. Und irgendwie hatte ich den anfangs so widerborstigen Kerl inzwischen ins Herz geschlossen!
Nun kehrte wieder Alltag ein und am folgenden Tag wurde eine Gruppe von Pferden aus dem Paddock geholt, um sie in die Ausbildung zu nehmen.
Voller Wiedersehensfreude entdeckte ich „meinen“ kleiner Rappen unter ihnen. Zunächst dachte ich mir nichts, aber dann wurde ich stutzig und als ich schließlich fragte, warum Óðinn denn bei den Jungpferden stehe, antwortete der Hofbesitzer: „Das ist doch nicht Óðinn, das ist Hrafn!“
Ich starrte ihn entgeistert an, denn schlagartig wurde mir die Verwechselung klar: Ich war in den vergangenen Tagen ahnungslos und fröhlich mit einem Pferd in den Wald geritten war, das noch nie in seinem Leben einen Sattel, geschweige denn einen Reiter getragen hatte!
Der ersten Schock saß tief, doch schnell machte die sich Erleichterung darüber breit, dass nichts passiert war und wir brachen fast gleichzeitig in ein unbändiges Lachen aus.
Dies lockte die anderen Mitarbeiter an, die in unserer Lachen einstimmten, als sie von der Verwechselung erfuhren.
Doch mir sollte das eine Lehre sein:
In einer freien Minute trafen der Hofbesitzer und ich uns im Paddock und er machte mich auf vielerlei Unterscheidungsmerkmale aufmerksam, denen ich zuvor keine Beachtung geschenkt hatte, wie zum Beispiel die mannigfaltigen Farbnuancen des Fells, durch die nur selten ein Rappe dem anderen gleicht, die (Dichte der) Mähne, und auf welche Seite sie fällt, die Augen der Pferde, Wirbel im Gesicht, kleine Blessuren und vieles mehr.
In dieser Lehrstunde wurde mir eines klar:
Nicht nur das Pferd hatte, wenn auch quasi aus Versehen und auf ziemlich unprofessionelle Weise, viel gelernt, sondern auch ich. Im Nachhinein erscheint es mir sogar so, als hätte ich durch dieses Missgeschick eigentlich viel mehr gelernt als mein vierbeiniger Freund!!!
Seit dieser Erfahrung sehe ich genauer hin und eines steht für mich nun fest: Kein Pferd gleicht einem anderen aufs Haar und das, was mir mit Hrafn (der für mich immer Óðinn heißen wird) passiert ist, würde kein zweites Mal geschehen, denn:
Zwei gleiche Pferde, das gibt es nicht!
(ps: Bis zu dem Tag, an dem Hrafn (Óðinn) verkauft wurde, folgte er mir immer auf dem Paddock, wenn ich kam, um ein Pferd zu holen – ob er sich wohl an die Bestechungsmöhren unserer ersten gemeinsamen Tage erinnerte 😊 ??? )