Für meine Freundin Kristín, die mir Gunnarssons  Advent im Hochgebirge vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hat und die auch nach mehr als 25 Jahren in Deutschland noch mit jeder Faser ihres Herzens an ihrer Heimat Island, seinen Menschen, Tieren, Landschaften und kulturellen Traditionen hängt.


Wieder stand Weihnachten vor der Tür – wo war das Jahr geblieben?  Die Goldregenpfeifer waren schon lange fort. Es kam ihm vor, als sei es erst gestern gewesen, dass sie sich auf die weite Reise über den Nordatlantik zu ihren Winterquartieren auf den Britischen Inseln oder anderswo auf dem europäischen Festland gemacht hatten.
Sie würden erst nächstes Jahr mit dem Frühling zurückkehren, der den kalten Norden Islands aus seiner winterlichen Starre befreien und die Natur langsam zu neuem Leben erwecken würde.

Die Zeit war verflogen, dabei war auch dieses Jahr angefüllt mit Arbeit gewesen, harter körperlicher Arbeit, und so mancher Tag, vor allem in den Wochen der Ernte, war ihm endlos erschienen. An diesen Tagen spürte er deutlich das Alter und er begann häufig schon am Nachmittag die Stunden zu zählen, bis er müde ins Bett sinken konnte.

Und nun waren es tatsächlich nur noch wenige Tage bis zum ersten Advent, die Zeit, der er sich jedes Jahr entgegensehnte.

In den Wochen vor dem Christfest, die er jedes Jahr im Hochgebirge verbrachte, spürte er eine Freiheit wie sonst nie im Jahr.

Die meiste Zeit verdingte er sich als Knecht, half im Sommer den Bauern gegen Lohn bei der Ernte, im Winter versorgte er gegen Kost und Logis die Tiere, vornehmlich Schafe. In seiner knapp bemessenen Freizeit kümmerte er sich um seinen bescheidenen Besitz.


Am Stall war immer etwas auszubessern, sonntags nach der Kirche machte er Heu auf gepachteten Wiesen und versorgte liebevoll seine Tiere – eine kleine Schafherde, ein Pferd, einen Hammel und einen Hund. Die drei letztgenannten, Faxi, Eitill und Léo mit Namen, waren das Liebste, was er besaß.

Sie waren mit ihm in die Jahre gekommen, ihnen vertraute er mehr als den Menschen. Mit ihnen hatte er schon so manche gefährliche Situation in der rauen, unberechenbaren Bergwelt bestanden und nie hatte der eine den anderen im Stich gelassen.

Dabei war Benedikt kein Eigenbrötler. Nein, sowohl die Familie, bei der er sich verdingte, als auch die Nachbarn auf den umliegenden Gehöften liebten ihn, denn er war arbeitsam, freundlich zu jedermann, hilfsbereit wie kein Zweiter – und in gewissem Sinne sogar gesellig.

Nie schlug er eine Einladung zum Kaffee aus. Auch fehlte er nicht, wenn es auf einem Hof etwas zu feiern gab, sei es eine Taufe oder ein Geburtstag. In größerer Runde blieb er jedoch meist zurückhaltend, ja fast ein wenig scheu.

Sein Umgang mit den anderen war freundschaftlich, dabei  jedoch stets  auf eine gewisse Distanz bedacht, die alle respektierten. Am wohlsten schien er sich unter seinen Tieren zu fühlen. Obwohl ihn alle gut leiden mochten, rankten sich eine Vielzahl an Tratschgeschichten um sein Leben, denn besonders  in einem so abgelegenen Winkel der Welt wo nicht viel geschah, waren diese schon immer eine beliebte Form der Unterhaltung gewesen.

Gerne spekulierte man über die Gründe für seine Zurückgezogenheit: Die einen behaupteten, ein Freund habe ihn in jungen Jahren böse verraten, die anderen tuschelten, er sei von einem Mädchen, der großen Liebe seines Lebens, zurückgewiesen worden.

In Wahrheit kannte keiner die Ursache seiner Verschlossenheit, und im Grunde war es einerlei. Benedikt gehörte zu den Menschen im Tal und hielt sich dabei stets ein wenig abseits, so wie er gleichzeitig Knecht und frei, rau und ungeheurer feinfühlig war – ein ganz besonderer Mensch, soviel spürte jeder um ihn herum.

Auch waren die Leute davon überzeugt, dass er einen Schutzengel habe. Den jüngsten Beweis dafür hatte der vergangene Winter erbracht, und letztendlich drückte sich dies auch in seinem Namen aus:  Benedikt, der Gesegnete!

Für die meisten Menschen im Norden Islands war der Winter mit seinen kurzen Tagen, den Schneestürmen und den frostigen Temperaturen die Zeit ein wenig auszuruhen. Vor allem in der Weihnachtszeit genossen sie die wohlverdiente, von der Natur verordnete Pause, scharten sich um den Ofen und sammelten Kraft für das kommende Frühjahr, wenn die Natur wieder erwachte und die Arbeit begann. Nicht so für Benedikt:

Seit nunmehr siebenundzwanzig Jahren, fast immer auf den Tag genau  am ersten Advent, machte er sich auf ins Hochgebirge, um die dort zurückgebliebenen Schafe aufzuspüren und in Sicherheit zu bringen.

Nicht, dass es sich dabei um seine eigenen Tiere handelte – diese kleine Schar war leicht zu überschauen und Benedikt brachte sie jedes Jahr frühzeitig in den sicheren Stall.

Aber viele Bauern machten sich nicht rechtzeitig auf den Weg. Oft genug kam es deshalb vor, dass das Wetter, das, je weiter es in den Winter ging, immer unberechenbarer wurde, ihnen gefährlich wurde und sie zum eiligen Abtrieb zwang.

Jedes Jahr blieben deshalb einige Schafe in den Bergen. Benedikt konnte den Gedanken nicht ertragen, im kommenden Frühjahr auf seiner ersten Wanderung in die Berge, auf die er sich zum Ende des Winters  jedes Jahr freute wie ein Kind auf den Geburtstag, die Kadaver dieser armen Kreaturen zu finden, elendig verendet in der unwirtlichen, mörderischen Winterwelt des Hochgebirges.

Alle Menschen in den Dörfern im Norden und auf den noch so abgelegenen Gehöften am Rande des Hochgebirges wussten um Benedikts Mission. Die einen schüttelten verständnislos den Kopf. Sie verstanden nicht, wie man für ein paar Schafe, die nicht einmal die eigenen waren, sein Leben riskieren konnte.

Aber sie mochten den einsamen Wanderer und sorgten sich um ihn. Sie boten ihm eine  Stärkung an, wenn er ihre Höfe passierte und häufig versuchten sie darüber hinaus, ihn von seinem Plan abzubringen.

Aber da gab es auch die anderen, die seine Gutmütigkeit zu ihrem eigenen Vorteil nutzten und ihn dadurch zusätzlich in Gefahr brachten. Diese spekulierten dreist auf Benedikts alljährlichen Dienst, machten sich unter fadenscheinigen Begründungen spät oder auch gar nicht auf den Weg und freuten sich über die gewonnene Zeit und den Umstand, sich nicht selbst in Gefahr bringen zu müssen. So war es auch im letzten Jahr geschehen, und dieses Mal hätte es Benedikt fast das Leben gekostet.


Für diejenigen, die Benedikt noch nicht kennen, sei zunächst berichtet, dass er auf seiner Expedition immer allein unterwegs war – oder  genauer gesagt ohne menschliche Begleitung, denn Eitill und Leó waren immer bei ihm.

Seinen Faxi musste er jedes Jahr schweren Herzens zurücklassen, denn dessen schmale Hufe taugten nicht für die Eiswüste des Hochgebirges, in der tiefe Risse und Spalten – häufig vom Schnee versteckt – eine zusätzliche Gefahr bargen. In den ersten Jahren hatte er ihn mitgenommen und am letzten Hof zurückgelassen, damit die Trennung nicht zu lang wurde, denn das Tier  war in außergewöhnlichen Maße auf seinen Herrn fixiert und tat sich – in dieser Charaktereigenschaft seinem Besitzer recht ähnlich –  schwer, andere an sich herankommen zu lassen.

In Bótn, der letzten Station vor dem Aufstieg in die Berge, wusste Benedikt  ihn jedoch in guten Händen. Hier lebten Pétur und Sigríður mit ihren Kindern. Zum Ältesten der Kinderschar hatte Benedikt eine ganz besondere Beziehung.  

Nicht nur, dass sie Namensvettern waren, was schon einigermaßen ungewöhnlich war, denn dieser Name war hier äußerst selten.  Weit und breit waren sie die einzigen, die ihn trugen und dass ihn keiner ihrer Vorfahren, wie es hier üblich war, an sie weitergegeben hatte, machte diesen Tatbestand noch bemerkenswerter.

Schon seit ihrer ersten Begegnung vor vielen Jahren, als der junge Benedikt noch ein Kind war, empfanden sie eine tiefe Zuneigung zueinander. Die beiden schien eine Seelenverwandtschaft  zu verbinden, die vor allem von der Liebe zu den Tieren und den Respekt vor der Natur geprägt war und der es keiner großen Worte bedurfte. 

So kam es, dass es fast immer Benedikt war, der die Ankunft seines Namensvetters erspürte und ihm die Tür öffnete, bevor dieser anklopfen konnte. Wenn er bei dessen Ankunft durch eine Arbeit verhindert war, trafen sie sich im Stall, um, nach einer kurzen, herzlichen Umarmung  nahezu wortlos die Tiere zu versorgen.

Die Geschichte wird nächsten Sonntag fortgesetzt

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