Jarpur war eines der größten Pferde, das ich hier auf Island je gesehen habe. Aber er war nicht nur groß, sondern auch auffällig schön.
Er war sehr gut proportioniert, kompakt mit hoher Schulter und breiter, muskulöser Brust. Seine Brustmuskeln waren beeindruckend und stark wie eine Faust!
Doch das, was ihn wirklich auszeichnete, war sein Kopf. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen so ausdrucksstarken Pferdekopf gesehen.
Mit meiner Meinung stand ich nicht allein. Auch viele andere, die ihn sahen, versicherten, dass sie noch nie ein so schönes Pferd gesehen hätten, mit Ausnahme von Sóti, dem Reitpferd von Dr. Grímur Thomsen.
Was ich noch erwähnen möchte: Dem ein oder anderen mag es merkwürdig erscheinen, dass jemand sich begeistert der präzisen Beschreibung von Aussehen und Körperbau eines Pferdes widmet. Aber ich bin der Meinung, dass dies durchaus gerechtfertigt ist, denn man tut es ja auch bei Menschen, die mit einer besonderen Physiognomie gesegnet sind. Das Aussehen der Pferde ist ebenso unterschiedlich wie das der Menschen, und es gibt ebenso viel schöne Pferde- wie Menschenkörper.
Jarpur hatte einen Vorwärtsdrang, der für manchen Reiter kaum zu regulieren war. Nichts desto trotz konnte auch eine Frau ihn viele Tage hintereinander reiten und dabei sogar einen Säugling im Arm halten, denn Jarpur wusste genau, wen er auf seinem Rücken trug und wusste sich zu benehmen.
Es ist bekannt, dass sehr wilde Pferde oft ruhiger werden, wenn sie mit Damensattel geritten werden. Aber dass ein so temperamentvolles Tier so umgänglich wird, wenn eine Frau es reitet, finde ich eher ungewöhnlich. Ich glaube, dass Jarpur immer genau spürte, wann er sich zurücknehmen musste. (…)
Viele erwachsene Pferde, ganz besonders die älteren, erfreuen sich an den jungen, so wie auch viele Menschen Kinder lieben.
Deshalb dachten wir auch, dass Jarpur sich auf der Weide so wohl fühlte, weil er dort nah bei den Fohlen sein konnte. Doch, wenn ich es recht bedenke, hielt er sich gar nicht in ihrer Nähe auf, sondern stand vielmehr meistens dicht bei einer Zuchtstute. – Und dafür gab es tatsächlich einen Grund, der uns nicht im Traum eingefallen wäre!
Einmal, als die Herde nah am Haus stand, versteckten wir uns hinter einem Hügel, um die Fohlen beim Spielen zu beobachten. Wir konnten auch sehen, wie Jarpur sich auf seine Freundin zubewegte.
Was wir nun sahen, konnten wir kaum glauben:
Jarpur ging in die Knie und legte sich unter die Stute. Diese war klein und Jarpur, wie wir wissen, sehr groß. Ganz offensichtlich wollte er an ihren Euter gelangen – und schon begann er an ihr zu saugen Ich glaube, Jarpur war zu dem Zeitpunkt achtzehn Jahre alt!
Nun begriffen wir, warum Jarpur immer mit der Herde zusammen sein wollte!
Wir konnten es nicht lassen und liefen zu den Pferden, doch sobald Jarpur uns entdeckte, sprang er auf und lief erschrocken davon. Offensichtlich schämte er sich. Da ihn bisher niemand beim Saugen an einer Stute beobachtet hatte, vermuteten wir, dass er es bisher immer heimlich getan hatte.
Offensichtlich spürte er, dass sich sein Verhalten nicht gehörte, aber er hatte in seinen ersten Lebensjahren immer zusätzlich Milch bekommen, und wahrscheinlich wollte er auf diese lieb gewonnene Extraportion nicht verzichten.
Jarpur hatte nie Probleme bei der Futtersuche. Besonders im Herbst, wenn es mühseliger wurde und er der Meinung war, dass man ihn früher hätte aufstallen sollen, suchte er die umliegenden Höfe heim und stöberte nach Heu. Er stand einfach morgens vor der Tür, wenn die Leute aufstanden, oder öffnete sogar eigenständig die Scheunentore. Er konnte tatsächlich Türen öffnen und hat sie sogar gewaltsam aufgebrochen, wenn er nicht anders hineinkam.
Zum Glück wurden die Bauern nicht wütend und straften ihn dafür nicht zu hart.
Wenn Pferde heftig kämpften, ging Jarpur dazwischen und schlichtete den Streit. Er näherte sich den Unruhestiftern ruhig und in stolzer Haltung – und sofort beendeten die Streithähne ihre Fehde.
Man konnte sich auch keinen besseren Wegbegleiter denken, denn er hatte eine ausgezeichnete Orientierung.
Da man am Beispiel von Jarpur sieht, wie schlau ein Pferd sein kann, hat man allen Grund zu der Vermutung, dass er nicht der einzige intelligente Vertreter seiner Rasse ist.
Die Menschen können die Intelligenz der Pferde oft nur nicht erkennen – Sie verstehen sie einfach nicht. In Wahrheit sind es also die Menschen und nicht die Pferde, die nichts verstehen!
Ein gutes Beispiel für menschliche Überheblichkeit ist eine dänische Redensart. Um die fehlende Intelligenz eines Menschen besonders bildlich zu beschreiben, sagt man, er sei „dumm wie ein Pferd“. Das darin enthaltene Urteil, dass Pferde dümmer seien als andere Tiere, ist falsch, was jeder weiß, der sich mit Pferden auskennt.
Denn ganz im Gegenteil: In Wahrheit ist derjenige der Dumme, der nicht in der Lage ist, die Intelligenz des anderen zu erkennen.
Jón Þórarinsson
Originaltitel: „Jarpur„. Dýravinurinn, 3. Jahrgang 1889, 3. Heft, S. 22-24.
Die Geschichte ist leicht gekürzt möglichst textgenau aus dem Isländischen übertragen worden, um ihren Charakter nicht zu verändern.
Eine kleine Anmerkung zum Schluss:
Jeder, der sich nur ein wenig mit der isländischen Geschichte befasst hat, weiß, wie hart die Lebensbedingungen auf Island zu der Zeit waren, aus der diese kleine Episode stammt. Für viele war das Pferd deshalb notgedrungen in erster Linie ein Arbeitstier und Helfer im Überlebenskampf, dass, wie man zu wissen glaubt, deshalb in der Regel eher roh behandelt wurde. Þórarinssons Erzählung macht deutlich, dass dies ein Pauschalurteil ist. Sein Beispiel zeigt, dass es durchaus auch zu dieser Zeit Menschen gab, die die Schönheit, die Intelligenz und den Charakter des Pferdes bemerkten und wertschätzten.