Ein Pferd mit Handicap zu fördern ist eine ganz besondere Herausforderung. Gwendolin hat sich dieser schwierigen Aufgabe gestellt.
Manchmal scheinen sie doch ein bisschen wahr zu werden, diese unrealistischen Geschichten aus den Pferdebüchern, die ich schon als Kind nicht gelesen habe: Mädchen findet wilden, beeindruckenden Hengst, der sich jedoch von niemandem reiten lässt. Entgegen aller Erwartungen fasst der Hengst Vertrauen zu dem Mädchen, sie kommt als einzige mit ihm klar und am Ende siegen sie auf einem Turnier. Ja, ja, träum weiter.
Er war zwei, als er zu uns auf den Hof kam, ein Patient. Er hatte einen Strecksehnenabriss, kam direkt aus der Klinik. Da war er schon über den Berg, aber noch lange nicht gesund. Die Strecksehne war abgerissen, irreparabel zerstört.
Das Hinterbein knickte ohne Stützverband bei jedem Schritt auf den Fesselkopf. Außerdem hatte er endgültig sein Vertrauen in die Menschen verloren. Er ließ sich nicht einfangen, selbst in der Box war er kaum aufzuhalftern.
Jeder Verbandswechsel war eine Qual. Er wollte sein Bein nicht anheben lassen. Sobald jemand das Bein fixierte, erinnerte er sich wahrscheinlich wieder daran, wie er stundenlang mit diesem Bein im Zaun festgehakt am Boden gelegen hatte und vor Schmerzen bei jedem Stromstoß schreien musste.
In der Klinik hatten sie ihn jedes Mal sediert, um an seine Wunde heranzukommen. Wir dachten, das müsste doch auch so gehen – mit etwas Geduld. Zu Beginn wurde der Verband noch täglich gewechselt, dann wurden die Abstände größer.
Jeder Verbandswechsel war ein riesiger Aufwand, ohne die Sedierung war es zudem gefährlich sich in der Nähe seines verletzten Hinterbeines aufzuhalten, geschweige denn die offene Wunde zu berühren.
Er hielt noch immer überhaupt nichts von Menschen. Er wollte absolut nichts mehr mit uns zu tun haben.
Dann kam der Tag, an dem er das erste Mal seine Box verlassen durfte. Die Wunde war oberflächlich verheilt, geblieben war eine riesige Narbe und ein dickes Bein ohne Strecksehne.
Ihn zu führen war ein kleines Abenteuer. Er hatte die längste Zeit seines Lebens in Boxen verbracht. Ihm hatte all das gefehlt, was unsere Junghengste gemeinsam beim Toben auf der Weide erleben, das ganze Jahr über.
Dieser erste Tag, an dem wir ihn wieder in einen Paddock stellen konnten, war für alle etwas Besonderes. Er fand alles komisch, Schatten, Pfützen, Bäume. Und kaum dass er im Paddock stand, sprang er ununterbrochen in die Luft, seine Hufe berührten kaum mehr den Boden.
Bewegung, nach all der Zeit, endlich Bewegung! Flummipferd. Ich habe selten ein Pferd so erleichtert erlebt. So ist er auch heute noch, nach so vielen Jahren, es macht ihm unheimlich Spaß sich zu bewegen. Er lebt durch Bewegung.
Herumzuhüpfen, zu toben, zu springen, zu buckeln, das alles scheint für ihn so elementar zu sein wie zu atmen. Vielleicht weiß auch er, dass niemand wusste, ob er das jemals wieder würde tun können.
Mit einem speziell für ihn angefertigten Beschlag kam er recht gut mit seiner Behinderung klar. Er konnte dann auf einer Jungpferdematerialprüfung vorgestellt werden und wurde gekört – ein riesiger Schritt für ihn.
Die Zeit des Hoffens begann. Würde er jemals Reitpferd werden? Nachdem er schließlich die erste Stute decken durfte, konnte man ihn zumindest in der Box relativ problemlos aufhalftern.
Es könnte ja sein, dass wir ihn wieder zu einer Stute bringen würden. Mittlerweile hatten wir genug geübt, dass er uns erlaubte sein krankes Bein zu berühren. Dann wurde er angeritten, vorsichtig, es schien sich nichts zu verschlechtern.
Menschen akzeptierte er mit der Zeit, wobei er noch nicht sonderlich davon überzeugt war, dass sie ihm zur Abwechslung auch mal etwas Gutes tun könnten. Er hatte viel lieber seine Ruhe. Aber wir befanden uns auf dem richtigen Weg.
Dann bekam er von einer Deckstute einen Tritt gegen sein kaputtes Bein. Er lahmte sofort und das Bein wurde doppelt so dick und heiß. Das bedeutete letzten Endes ein halbes Jahr Pause für ihn.
Wir wussten nicht, ob sich diese Schwellung jemals würde zurückbilden können. Als er endlich nicht mehr lahmte, trainierten wir ihn ganz vorsichtig wieder an. Als er dann fertig eingeritten war, wollten wir ihn professionell vorstellen lassen.
Allerdings konnte er auf die Schnelle kein Vertrauen in den neuen Reiter aufbauen. Also durfte ich ihn mal über den Winter reiten. Und irgendwie funktionierte es. Aus irgendeinem Grund legte er sein Misstrauen ab, irgendwie machte es klick.
Seitdem ich ihn reite, muss ich ihn nur rufen. Oft kommt er angaloppiert. Im Unterricht haben wir euphorische Höhenflüge. Pure Konzentration, Aufmerksamkeit. Ich fühle seine Schritte unter mir, fühle dass er jeden Huf genau dort absetzt, wo ich ihn haben möchte.
Er freut sich einfach so zu laufen, er hat so eine positive fröhliche Energie, es bleibt mir schlicht und ergreifend nichts anderes übrig, als begeistert zu sein. Und wenn man dann ein Lob bekommt, dann fühlt es sich besser an als schweben.
Es fühlt sich an wie in einem riesigen Chor zu singen. Ich steige ab und kann für ein paar Tage fast nur darüber reden, schreiben. Das Gefühl, dass er da draußen steht und auf mich wartet, bringt mich innerlich zum Strahlen. Ich glaube man kann es uns auch ansehen.
Ich hoffe so sehr, dass alles weiter gut laufen wird. Er steht immer schon am Tor, wenn ich ihn von der Weide holen will. Als wüsste er, wann ich komme. Oder er hört mich einfach schon so viel früher. Es ist auf jeden Fall toll. So ein Gefühl ist sehr kostbar.
Was macht man also mit einem Hengst mit Handycap, der wider Erwarten erstaunlich gut ohne Strecksehne zurechtkommt, aber neue Reiter nicht akzeptiert? Unser erstes Turnier verlief noch nicht so nach Plan.
Er zeigte zwar, dass er sich sehr wohl zu bewegen wusste, aber Lautsprecher und Plakate waren dann doch etwas zu viel. In der Mitte der Ovalbahn ist es viel sicherer. Man kann wohl nicht alles bekommen, dachte ich mir. Vielleicht war er doch nur ein Ausreitpferd?
Im zweiten Anlauf war ich klüger. Wir wussten, was wir voneinander wollten. Wir kamen Freitagnacht auf dem Turnierplatz an, man konnte kaum etwas sehen und er war noch sehr aufgeregt.
Trotzdem versuchte ich ihm eine Runde die Ovalbahn zu zeigen. Es war fast unmöglich, es war dunkel, er war aufgeregt und hatte alles andere im Sinn als ruhig um die Bahn zu laufen.
Am nächsten Morgen ließ ich ihn vor der Prüfung freilaufen und als wir das erste Mal bei Tageslicht die Ovalbahn betraten, konnte ich fühlen, dass alles perfekt werden konnte.
Ich glaube, ich tat nicht viel mehr als ihm zu sagen welche Gangart und welches Tempo angesagt war und versuchte ansonsten mich tragen zu lassen ohne ihn zu stören.
Dann war unsere erste richtige Viergangprüfung vorbei und wir lagen in Führung. Spätestens in dem Moment wusste ich, dass wir es tatsächlich schaffen konnten. Am Abend gewann er dann im Finale.
Ich bin so stolz auf ihn, wenn er toll läuft und niemand merkt, dass das alles andere als selbstverständlich für ihn ist. Ich bin so stolz auf ihn, wenn wir immer besser werden und noch so viel Luft nach oben ist. Aber am glücklichsten macht er mich, wenn er seinen Kopf in meine Arme legt.
Natürlich passe ich auf sein Bein auf. Aber mittlerweile kann ich fast alles mit ihm machen. Langweilig wird es nie mit ihm, er kann mich noch immer sehr herausfordern. Hoffentlich werden wir noch viel zusammen lernen können.
Manchmal stehe ich vor ihm, schaue ihn an und kann es kaum fassen. Ich hätte weder gedacht, dass er jemals so ein geniales Reitpferd werden würde, noch dass er ausgerechnet mich als Reiter möchte.
Wenn ich Freitagabend im Dunkeln auf die Weide komme und sich zwei dunkle Schatten aus dem Schwarz lösen, die auf mich zugelaufen kommen, dann ist mir egal, dass es schon viel zu spät ist, dass ich nichts sehe, müde bin, dass ich einen Fünfzehnstundentag haben werde.
Es fühlt sich einfach so richtig an und mit jedem Schritt, den er auf mich zugelaufen kommt, aus der Dunkelheit vom anderen Ende der Weide, verliere ich mein Herz ein Stück mehr an ihn.
Danke Großer.
Gwendolin Simper –